Der Schein kann trügen – Indikatoren für Klimaneutralität


Will ein Unternehmen klimaneutral werden, stellt sich die Frage nach den Indikatoren, anhand derer eine seriöse Neutralität entwickelt wird. Mit Blick auf die gängige Praxis gibt es nicht den einen richtigen Weg zur Klimaneutralität. Viele Wege führen dorthin – auch solche, die zwar den Anschein der Klimaneutralität erwecken, aber das Ziel verfehlen.

Von Anja Grothe und Matthias Teller

Abb.1: Emissionsquellensystematik nach GHG-Protocol (eigene Darstellung)

Abb.1: Emissionsquellensystematik nach GHG-Protocol (Grothe, A. & Teller, M)

Einziger Indikator für die Klimaneutralität ist oft der CO₂-Fußabdruck. Für Unternehmen bzw. Institutionen hat sich als internationaler Standard zu dessen Ermittlung das Greenhouse Gas Protocol durchgesetzt. Davon abgeleitet ist die ISO 14064. Diese gängigen Standards lassen bei der Auswahl von Berechnungsmethoden und Datenquellen große Freiheiten. Für drei Bereiche (Scopes) werden die anfallenden Treibhausgase in CO₂e bilanziert (DENEFF, GUTcert, ÖKOTEC, 2020; s. Abb. 1).Während direkte Emissionen (Scope 1) und indirekte Emissionen (Scope 2) recht genau ermittelt werden können, ist es sehr aufwändig, die indirekten THG-Emissionen zu erfassen, die aus vor- und/oder nachgelagerten Prozessen entstehen (Scope 3), z.B. aus der Anlieferung von Produkten oder ausgelagerten Prozessen. Die Wertschöpfungskette kann sehr lang sein. Dann sind pragmatische Entscheidungen zu treffen, bis wohin das Unternehmen sich in der Verantwortung sieht.

Dass es hierbei mehrere Wege zur Klimaneutralität mit unter-schiedlicher Seriösität gibt, hat folgende Gründe:

Abb.2: Dimensionen der Nachhaltigkeitsperformance (eigene Darstellung nach Grothe, A. & Teller, M., 2016)

  • Es gibt keine eindeutigen Vorgaben, welche Emissionen für die Neutralstellung erfasst werden müssen. Den Unternehmen bleibt überlassen, für sich festzulegen, wie weit die Verantwortlichkeit für die Emissionsquellen reicht, wo folglich die Bilanzgrenzen gezogen werden. So besteht praktisch keine Vergleichbarkeit in Bezug auf Klimaneutralität zwischen Unternehmen.

  • Unternehmen können frei entscheiden, auf welchem Weg sie die Klimaneutralität ihrer Geschäftsprozesse erwirken wollen. Vermeidung, Einsparung und Kompensation werden gleichrangig behandelt. Es ist also durchaus möglich, Einsparmaßnahmen zu umgehen und stattdessen Kompensationsmöglichkeiten zu nutzen – nach dem Motto „sündige ruhig, es gibt ja den Ablasshandel“.

  • Außerdem gibt es kein Zertifikat zur Klimaneutralität, das einer offiziellen Norm unterliegt. Ein Unternehmen kann zwischen verschiedenen Zertifikatgebern wählen. Hier findet folglich ein Wettbewerb statt, der großzügige Handhabung begünstigen kann.

Was also schützt ein Unternehmen davor, zu lax mit seiner Entwicklung in Richtung Klimaneutralität umzugehen? Was kann darin unterstützen, den Pragmatismus bezüglich der Bilanzierungsgrenzen nicht zu weit zu treiben? Wie lässt sich verhindern, dass – um es einmal in der Überspitzung deutlich zu machen – nicht die Entlohnung der Beschäftigten knapp gehalten wird, um genügend Finanzmittel für Kompensationszahlungen zu haben und so ohne sonderliche Bemühungen zu den „Klimaschutzhelden“ zu gehören?

Umfassendes Set an Nachhaltigkeitsindikatoren nutzen

Eine Möglichkeit liegt in der konsequenten Bewertung und Verbesserung der eigenen Nachhaltigkeitsperformance, zu der die Klimaneutralität gehört. Indem als Indikator für die Klimaneutralität nicht nur die Bilanz der THG-Emissionen, sondern ein umfassendes Set an Indikatoren für die Nachhaltigkeitsperformance des Unternehmens genutzt wird, lässt sich der Weg zur Klimaneutralität realistisch, transparent und steuerbar beschreiten – mit vergleichsweise moderatem Aufwand und unter Nutzung verfügbarer Bewertungsverfahren (Grothe, A., 2016). Dadurch gelangt in den Blick, wo noch Emissionsreduzierungen bzw. -einsparungen in Scope 1 und 2 anstehen. Erfasst wird auch, ob Kompensationen nicht zu Lasten sozialer Verbesserungen erfolgen, ob Lieferantenmanagement in Scope 3 die Verantwortlichkeit für die Klimaneutralität kontinuierlich auf alle Wertschöpfungsketten ausdehnt und ob das Unternehmen darüber hinaus seine Verantwortung für eine Entwicklung der Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität wahrnimmt.

Indikatoren für Klimaneutralität sollten deshalb vier Dimen-sionen erfassen und im Detail bewerten (s. Abb.2):

  • In der ökologischen Dimension liegt der Fokus auf all jenen Prozessen und Aktivitäten des Unternehmens, die unmittelbar zu THG-Emissionen beitragen.

  • Inwiefern die Aktivitäten des Unternehmens in Richtung Klimaneutralität auf einem soliden wirtschaftlichen Fundament stehen, erfasst die ökonomische Dimension.

  • Ob hierbei den Beschäftigten zukunftsfähige Arbeitsbedingungen geboten werden, bewerten die Indikatoren der sozialen Dimension.

Und in der Dimension Governance liegt der Fokus auf der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit des Unternehmens.

Mögliche Bewertungsverfahren

Abb.3: Beispiel einer Analysesystematik (Grothe, A. & Teller, M)

Eine Methode für solch eine umfassende Bewertung der Nachhaltigkeitsperformance ist das Kriterien- und Indikatorenmodell für Nachhaltigkeit (KIM). Es ist ein Selbstbewertungsinstrument, das mit ca. 260 Indikatoren in qualitativen Fragen und unternehmensspezifischen Kennzahlen eine quantifizierte Darstellung der gelebten Nachhaltigkeit liefert. Dabei verfolgt KIM ein didaktisch-partizipatives Prinzip, indem die Analyse mittels Online-Fragebogen eine breite Beteiligung von Mitarbeitenden und Führungskräften einschließt. KIM ermöglicht Unternehmen eine selbstständige Reflexion der eigenen Nachhaltigkeitsleistung in den oben genannten vier Dimensionen. Die Methode beruht auf den Grundannahmen, dass Nachhaltigkeit einen Prozess darstellt und gelebte Nachhaltigkeit und Klimaneutralität innerhalb eines Unternehmens nur dann existieren kann, wenn Mit-arbeitende in diesen Prozess umfassend involviert werden. Das Analyseergebnis zeigt deutlich, wo Handlungsbedarf besteht in Bezug auf die Nachhaltigkeitsperformance sowie die Art und Weise, zu Klimaneutralität zu gelangen (s. Abb.3).

Eine weitere Methode ist die Entwicklung einer Sustainable Balanced Scorecard (SBSC) für die Strategie „Klimaneutralität“. Der Zweck der SBSC besteht zunächst darin, die Strategie in konkrete Ziele und Kennzahlen zu übersetzen und dabei ökologische und soziale Aspekte explizit in das Managementsystem zu integrieren. Typischerweise wird die (S)BSC top-down entwickelt. Durch ein schrittweises Vorgehen durch alle Perspektiven (Finanz-, Kunden-, Prozess- sowie Lern- und Entwicklungsperspektive) der Balanced Scorecard werden die strategierelevanten Nachhaltigkeitsaspekte mit den ökonomischen Aspekten für alle vier Perspektiven und die darin enthaltenen Kennzahlen kausal miteinander verknüpft. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein hierarchisches Geflecht an Kausalbeziehungen (sog. Strategiekarte), das widerspiegelt, wie die Strategie „Klimaneutralität“ erfolgreich umgesetzt werden sollte. Ist die SBSC bezüglich der Perspektiven und der Strategiekarten erstellt, so offeriert sie als Managementsystem eine systematische Vorgehensweise für das strategische Nachhaltigkeitsmanagement, die in einem Kennzahlensystem mündet. Damit bietet sich die SBSC als Strukturierungsrahmen für ein operatives Nachhaltigkeitscontrolling auch in Bezug auf das Erreichen von Klimaneutralität an (vgl. Schaltegger, S., 2016).


PROF. DR. ANJA GROTHE

ist Professorin für Nachhaltigkeitsmanagement an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin. Sie gründete dort 1997 das Institut für Ressourcenschonung, Innovation und Sustainability (IRIS e.V.), später SUSTAINUM Institut für zukunftsfähiges Wirtschaften. Seit August 2013 ist sie Senior Consultant bei SUSTAINUM Consulting.

DR.-ING. MATTHIAS TELLER

war 2010-2013 Geschäftsführer des SUSTAINUM Instituts für zukunftsfähiges Wirtschaften und ist seitdem Mitinhaber der SUSTAINUM Consulting, wo er vor allem beratend und als Gestalter innovativer Workshopkonzepte tätig ist.

Dieser Beitrag stammt aus B.A.U.M.-Insights – Jahresmagazin 2022.

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